Cover
Titel
Eine europäische Frau.


Autor(en)
Palmstierna-Weiss, Gunilla
Erschienen
Anzahl Seiten
599 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg

Gunilla Palmstierna-Weiss (1928–2022), Ehefrau des Schriftstellers Peter Weiss, benennt sich im Titel ihrer Autobiografie als „europäische Frau“. Das trifft es, allerdings bestand dieses Europäertum vor und zu Beginn ihrer sich langsam entwickelnden Karriere zu einem guten Teil aus Fluchtbewegungen: vor den Deutschen im Krieg oder vor gescheiterten Ehen, immer in der Angst, das Sorgerecht für die Kinder zu verlieren, um die sich die Väter kaum kümmerten, von den Familien ihrer Ehemänner um das Erbe geprellt oder zeitweise der Kinder beraubt. Allein dieser Strang ihrer Erinnerungen führt plastisch vor Augen, mit welchen Hindernissen eine Frau, die sich nicht den Konventionen unterwerfen wollte, zu kämpfen hatte. Es ist regelrecht verstörend zu lesen, was für Übergriffe bis weit ins Nachkriegseuropa möglich waren, etwa wenn entnervte Väter Kinder aus verkorksten Familien einfach verstießen oder der geschiedene erste Ehemann von Palmstierna-Weiss sich in ihrer Wohnung verschanzte. Anschließend denunzierte er sie beim Jugendamt als wohnungslos, um das Sorgerecht für das gemeinsame Kind zu erhalten (das er nie hätte erziehen können). Erstaunlich ist allerdings auch, was Frauen wie Palmstierna-Weiss – und viele Männer – seinerzeit hinnahmen und wie sie sich immer wieder mit den Situationen arrangierten, weil sie sich arrangieren mussten. Immer wieder waren durch den Krieg, Konventionen oder Abhängigkeiten aller Art Lebenswege verbaut. Einige bissen sich durch, andere entkamen den Verhältnissen nicht.

Das Narrativ der Autobiografie ist konventionell. Sie beginnt mit ihrer Herkunft aus einer jüdischen Buchdruckerfamilie in Lausanne Ende der 1920er-Jahre, um dann die Stationen ihres Lebens abzuschreiten: Frühe Scheidung der Eltern, Kindheit in mehreren Ländern Europas, Krieg in Rotterdam und Berlin, dann Amsterdam, Paris und Stockholm zum Kunststudium als Keramikerin. Später wechselte sie ins Bühnenbild. Palmstierna-Weiss kam seit der Kindheit mit der gesamten Prominenz der europäischen Avantgarde in Kunst und Wissenschaft in Berührung, aber nicht die Aufzählung dieser Kontakte scheint ihr wichtig gewesen zu sein, so lese ich jedenfalls den Text, sondern eher ein trotziger Rechenschaftsbericht, wie es so war, sich als eigenständige Frau in diesem Jahrhundert zu behaupten, umstellt von Geboten und in ständig sich auflösenden Familienkonstellationen, in denen Kinder Verschubsache waren: „Das Haus [eines späteren Ehemannes der Mutter von Palmstierna-Weiss] erinnerte an die Burg von Ritter Blaubart. Rein und raus mit den Frauen und den dazugehörigen Kindern, die Frauen wurden unglücklich und die Kinder waren austauschbar.“ (S. 83) Die Mutter, zermürbt von missglückten Ehen, Krieg, Isolation und der patriarchalischen Gesellschaft, beging später in Stockholm Selbstmord.

Diese Erzählung macht die Erinnerungen auch für Historiker:innen interessant, weil sie eine Welt voller alltäglicher Widerständigkeiten und Ausschlussmechanismen beschreibt, die bis weit in die Nachkriegszeit bestand und auch Männer drangsalierte. In die Bibliothèque Nationale beispielsweise fand man nur mit Hilfe einer Reihe höchst gewichtiger Empfehlungsschreiben Zugang und stand dann – in den 1960er-Jahren! – in Sachen Marat immer noch vor Giftschränken. In den 1920er-Jahren mussten junge Paare im Versuch, sich von Konventionen zu befreien, in den neuen Stockholmer Stadtteil Kungsholmen ziehen, damals noch weiter weggelegen von der etablierten Stadt. Hier erkämpften sich viele Frauen das Studium und wurden später Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen, oft um den Preis zerstörter Ehen.

Der zweite Teil ihrer europäischen Biografie handelt dann von ihrer künstlerischen Karriere, die in Stockholm als Keramikerin begann, in einem Kreis noch nicht bekannter und berühmter Künstler mit recht hoher Selbstmordrate und nach wie vor höchst volatilen Sozialbeziehungen und Partnerschaften. Weiterhin bevölkern Menschen mit durchaus unsympathischen Zügen ihr Leben, mal empört sie sich, mal beschreibt sie alles überraschend gelassen. Das Leben mit ihrem späteren Ehemann Peter Weiss, den sie 1964 heiratete, war ebenfalls nicht einfach. Immer wieder wurde sie hereingelegt, wenn im Programmheft ihre Urheberschaft des Bühnenbildes einfach verschwiegen wurde, oder wenn Theater ihre Entlohnung drücken wollten. Ihre Kinder mussten nun ebenfalls zwischengelagert werden, wenn sie die Arbeit zu hochkarätigen Aufführungen ins Ausland führte. Arrivierte Regisseure wie Fritz Kortner oder Ingmar Bergman erprobten durch Psychoterror, was sie auszuhalten in der Lage war. Andererseits: An Anregungen arm war dieses Umfeld wahrlich nicht, in dem Palmstierna-Weiss zur gefragten Bühnenbildnerin aufstieg (instruktive Kapitel zu ihrer Praxis als Bühnenbildnerin sowie eine Auswahlliste ihrer künstlerischen Arbeiten beschließen das Buch).

Autobiografien erfolgreicher Menschen sind zu oft eine reine Leistungsschau der eigenen Erfolge und eine Girlande des Eigenlobs durch die Stimmen anderer. Palmstierna-Weiss bietet eher einen zurückhaltenden Rechenschaftsbericht ihres Lebens. Vielleicht staunt sie ebenso wie der Leser über das, was möglich war an Widerwärtigkeiten und Positivem. Ihre Leistungen allerdings sind für mich leicht diffus geblieben. Vieles wird erwähnt, bleibt in der Schwebe, wird nicht vertieft. Nicht, dass sie die Zusammenarbeit mit den großen Regisseuren und ihre eigenen Erfolge verschweigen würde. Aber was konkret ihre Kunst so bedeutend machte, muss man sich aus anderen Quellen erschließen. Immerhin konnte sie es sich irgendwann leisten, Aufträge abzulehnen, wenn die Regisseure sie nicht als gleichberechtigt behandelten. Andererseits gibt dieser Schleier dem Buch einen erfreulich unprätentiösen Ton. Und zugleich zeichnet sie gegen die doch immer recht unglaubwürdige happiness der „Making of“-Promotion-Filme ein weniger erfreuliches Bild der Kunstwelt, das zeigt, wie tief verwurzelt die Ursachen der gegenwärtigen „#MeToo“-Debatten sind.

Es wäre hilfreich gewesen, ein Personenverzeichnis beizufügen, denn den Schriftsteller Ivar Lo-Johansson mag man in Deutschland vielleicht noch kennen, sehr viele Ikonen der schwedischen Geschichte, die meist beiläufig erwähnt werden, aber nicht. Auch die eine oder andere Eindeutschung ist überflüssig, etwa wenn aus dem Reichs- das Bundesgesundheitsamt wird (S. 173) – Schweden war und ist ein Reich, kein Bundesstaat –, oder wenn das seinerzeit bewusst so genannte „Moderne Museum“ (Moderne museet [sic]) in Stockholm zum Museum für Moderne Kunst gemacht wird (S. 236). Und die Behauptung, dass in der Bundesrepublik der frühen 1960er-Jahre „noch keine Meinungsfreiheit“ herrschte (S. 482), ist, geschrieben im Jahre 20131 und überarbeitet für die deutsche Ausgabe 2022, schon eine kühne und unnötig unlektorierte Behauptung.

Anmerkung:
1 Gunilla Palmstierna-Weiss, Minnets spelplats, Stockholm 2013.

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